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DIE GESCHICHTE EINES VOLKES IST EINE GESAMTHEIT
Ansprache des Präsidenten der Republik Slowenien Milan Kucan an kungdgebung von Vertriebenen un anderen Opfern der Kriegsgewalt

Brestanica, Rajhenburg Schloß, 4 June 2000

Foto: BOBO

Auf der Wanderung durch die Geschichte ist uns Slowenen viel Grausames widerfahren. Wir wurden unterdrückt, erniedrigt, unser Lebensraum wurde eingeengt, uns wurde das Land genommen und immer wieder die eigene Sprache entzogen und während des Zweiten Weltkrieges auch das Recht auf Existenz. Trotzdem gibt es uns, wir überlebten. Vor neun Jahren gründeten wir sogar einen eigenen Staat. Ein klarer Beweis unserer Lebenskraft.

Die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie unterdrückte eine Reihe von europäischen Völkern und beherrschte und sie durch das reinrassige Besetzungssystem, bot ihnen die Wahrung und die Gewährleistung der nationalen Identität an, sollten sie sich bereit erklären, die deutsche Gesellschaftsordnung zu übernehmen. Slowenien hingegen wurde zerstückelt, aufgeteilt auf drei Besatzungsmächte, die sich den jeweiligen Anteil einverleibten, annektierten, und das slowenische Volk dem Aussterben und der Vernichtung uberließen. Das Schicksal der Slowenen war ein anderes, wir wurden zum Entzug der eigenen nationalen Identität verurteilt, wir wurden zum Gegenstand einer durchdachten, radikal geplanten Politik der Entvölkerung, deren Grundlagen Himmler mit seinen Leitlinien zur geplanten Deportation der slowenischen Bevölkerung bereits unmittelbar nach der Besetzung - am 18. April 1941 - schuf. Das ist bekannt, vor allem Ihnen.

Sie, die überlebenden Ausgesiedelten und Vertriebenen, Sie sind Augenzeugen des Verbrechens, dem wir uns voll Leid und Schmerz erfolgreich widersetzten.

Ausschließlich der Widerstand des Volkes, dem das Todesurteil bewußt wurde, konnte diesen barbarischen Vorsatz vereiteln. Nicht nur der bewaffnete Kampf der Partisanen, nicht nur ein breites Netz von Aktivisten und Helfern der Befreiungsfront, vielmehr auch die Tausenden Slowenen in den Konzentrationslagern, in der Kriegsgefangenschaft und in der Verbannung waren ein Teil dieses Widerstandes, dieses Kampfes. Jeder einzelne von Ihnen slowenischen Vertriebenen hegt eine lebende Erinnerung an den eigenen Kreuzweg, an die eigene Hölle, an den eigenen Kampf. An den Lebensabschnitt, in dem man nach den Ideen der Verursacher zufolge, zur endgültigen Aufgabe des eigenen Stückes Heimat verurteilt wurde. Sie, die Vertriebenen, Sie waren schuld, Slawen zu sein, nach den rassistischen Maßstäben eine minderwertige Rasse; man machte Sie zu Sklaven, man quälte Sie mit unterschiedlichsten Methoden, gemäß dem Auftrag der Gestapo: "Nicht umbringen, sondern quälen bis zum Tode."

Ein ähnliches und auf seine Art ein besonders tragisches Schicksal im besetzten Europa widerfuhr nur noch den Juden. Auf diese - leider geradezu unbekannte Tatsache - sind wir berechtigt und verpflichtet, laut aufmerksam zu machen; aufgrund seiner selbst, aufgrund der eigenen Würde und der Selbstachtung, aber auch aufgrund der Mitgestaltung des kollektiven Bewußtseins und der Haltung Europas gegenüber dem unfreundlichen Erbe der durch den Nationalsozialismus und Faschismus gekennzeichneten jüngeren Geschichte.

Gegenüber der nationalsozialistischen und faschistischen Gewalt in Europa bezog die demokratische Welt Stellung durch die am Ende des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar nach ihm ausgearbeiteten Beschlüsse. Und diese Beschlüsse dürfen nicht geändert werden, wie auch die Vergangenheit nicht geändert werden kann. Die damaligen Vorgänge können nicht revidiert, die damaligen Rollen nicht ausgetauscht werden. Die Wahrheit kann und darf nicht verlorengehen, auch der Unterschied und die Trennlinie zwischen den Henkern und den Opfern dürfen nicht verwischt werden. Darum sind wir verpflichtet, auf die volle Gültigkeit der nach dem Zweiten Weltkrieg vereinbarten internationalen Übereinkommen und Entscheidungen zu bestehen. Mit ihnen bestimmte das demokratische Europa die endgültige Haltung gegenüber den Greueltaten des Krieges und der Gewalt und begann, das geschehene Unrecht wiedergutzumachen.

Und das ist auch unsere Haltung gegenüber dem Zweiten Weltkrieg und sie betrifft sowohl uns Slowenen als auch unseren Staat, jetzt, wo die unterschiedlichen Maßstäbe für die Opfer der Kriegsgewalt endlich beseitigt werden und begonnen wird, das Unrecht und die Irrtümer, die durch die Einteilung der Opfer in westliche und östliche gemäß der Doktrin der ehemaligen Einteilung auf Blöcke und des kalten Krieges geschah, auch materiell zu entschädigen - zumindest symbolisch. Endlich gibt es nur eine einzige Kategorie von Opfern, ungeachtet ihrer Volkszugehörigkeit, ihrer Religion, ihres Geschlechts und des Alters. Für viele ehemaligen Vertriebenen, Zwangsarbeiter, Sklaven des Nationalsozialismus unterschiedlichster Nationen leider zu spät, aber eine bedeutende moralische Genugtuung. Für uns alle, für das gesamte demokratische Europa bedeutet diese Erkenntnis eine konkrete Bestätigung dessen antinazistischer und antifaschistischer Grundlagen. So und nicht anders sind die komplexen internationalen Aktivitäten - vor allem die Aktivitäten in Deutschland und in Österreich - bei der Suche nach einer Lösung für die Problematik der Entschädigungen für die Zwangsarbeit und die Versklavung in der Zeit des Zweiten Weltkrieges zu verstehen und wir wollen sie auch so verstehen. Slowenien kann nicht in die Kategorie "Rest der Welt" fallen und die slowenischen Vertriebenen und Zwangsarbeiter als zweitklassig, minderwertig und erneut erniedrigt behandelt werden. Berechtigt ist die Erwartung, daß die Garantien über die Nichtdiskriminierung gewahrt werden und daß alle slowenischen Berechtigten auf Entschädigung für die Zwangsarbeit im Deutschen Reich mit allen anderen gleichberechtigt behandelt werden und die Vertreter des slowenischen Staates und die zur Lösung dieser Problematik ins Leben gerufenen Institutionen im Rahmen einer unmittelbaren Zusammenarbeit sie aktiv unterstützen werden.

Beschlüsse, die noch in der Zeit gefaßt wurden, bevor die SLS (Slowenische Volkspartei) die Koalition gekündigt hat und über den Mißtrauensantrag abgestimmt wurde, sowie die Aktivitäten einzelner Ministerien sind unbestritten eine vielversprechende Stütze unserer berechtigten Erwartungen. Jedoch können und dürfen die lediglich nackten Beschlüsse niemanden zufrieden stimmen. Vor allem Sie nicht, Sie, die berechtigt die Hoffnung hegen, daß Ihr und unser gemeinsamer Staat Ihre berechtigten Erwartungen entschlossen durchsetzen wird, aufgrund ihrer unbestrittenen Legitimität, aufgrund der Würde der eigenen Bürger, des Ansehens und der Stellung, die den Slowenen im Nachkriegseuropa objektiv gebührt.

Dabei ist die Rolle des Slowenischen Vertriebenenvereines von besonderer Bedeutung, je besser und stärker ihre Bemühungen mit anderen einschlägigen Einrichtungen verbunden und abgestimmt werden, desto wirkungsvoller wird Ihr Auftritt im internationalen Rahmen sein, in dem diese Problematik gegenwärtig gelöst wird. Dies wird aber auch der Stärkung Ihres berechtigten Drucks auf die verantwortlichen Behörden beitragen, die im Namen des slowenischen Staates aus moralischer, rechtlicher, materieller und statusbedingter Sicht die Stellung und den Schutz der Vertriebenen, der gestohlenen Kinder, der Zwangsmobilisierten - aller Opfer des gleichen nazifaschistischen Übels während des Zweiten Weltkrieges zu regeln haben.

Es ist unbestritten, in den letzten Jahren ist bereits einiges getan worden, sei es die breite Bewußtseinsbildung, die Aufdeckung der lange zu wenig bekannten und oft im Schweigen gehüllten und verzerrten Wahrheit über Ihr Schicksal, über Ihr Leid während des Krieges, aber auch in der Nachkriegszeit, oder die Verabschiedung einer Reihe von Gesetzen und anderer konkreter Maßnahmen. Trotzdem kann dies keine Entschuldigung bedeuten, daß sich ein Gesetz - das Gesetz über einen Fond zur Auszahlung von Entschädigungen für Opfer der Kriegs- und Nachkriegsgewalt - bereits seit fünf Jahren im parlamentarischen Prozedere befindet, mit dem man endlich zu einer breiten gesetzlichen Grundlage für die Auszahlung von Kriegsentschädigungen gelangen würde, obwohl man einige triftige Gründe für eine solche Verzögerung finden könnte, u.a. auch in mangelnder Übereinstimmung zur Höhe der Entschädigungen für die unterschiedlichen Kategorien von 55.000 Berechtigten, darunter von fast 19.000 Vertriebenen.

Die gegenwärtige tiefverwurzelte Regierungskrise kann die Verabschiedung dieses Gesetzes - aber auch anderer für ein modernes, geordnetes und nach den besten europäischen Manieren verwaltetes Slowenien bedeutenden Gesetze - nur auf eine noch längere Bank schieben. Das könnte für unser Land ungeahnte Konsequenzen nach sich ziehen. Ich bin tief davon überzeugt, daß wir Wähler fähig sind, die Verantwortung für die Entstehung der Krise und ihre Folgen gut abzuwägen und daß wir mit unseren Stimmen die Parteien honorieren werden, die im größtmöglichen Maße dafür haften, daß sich Slowenien auf den Grundlagen der Demokratie, der Rechtstaatlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit zu einem im In- und Ausland angesehen Land entwickeln wird, das selbstbewußt auch Ihre Interessen vertreten und ein offenes Ohr für Ihr berechtigtes Anliegen aufweisen wird.

Sehr geehrte Damen und Herren,
die Geschichte eines Volkes ist eine Gesamtheit, die nicht in ein freundliches und ein unfreundliches Antlitz gespalten werden kann. Man kann nicht willkürlich aus ihr etwas herausreißen oder etwas verschweigen. Sie wird uns einfach gegeben. Die Vergangenheit kann nicht rückwirkend geändert werden. Man kann jedoch ihre Folgen wiedergutmachen und sich vor fehlerhaften Handlungen und Entscheidungen hüten. Um so handeln zu können, muß man ihren Verlauf kennen und kennen wollen, mit allen seien Irrtümern und Irrwegen, ohne sie zu verschweigen oder zu verfälschen. Das Volk, das dazu fähig ist, ist ein großes Volk. Mit Stolz gilt es zu wiederholen, wir sind ein großes Volk! Mit Sicherheit sind wir ein Volk, das es nie wieder zulassen wird, daß ein Besatzer, ungeachtet dessen, von welcher Seite er kommen mag, uns unser eigenes Stück Erde entreißen und uns auf den Dornenweg der Verbannung treiben wird, da das Volk, das bereits eine Verurteilung zum Tode überlebte, es nicht zulassen wird, daß es irgendjemand noch einmal dazu verurteilt. Wer einmal aus seinem Land vertrieben wurde, wird es in der Zukunft immer verteidigen.


 

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