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WIR KEHREN IN DIE WESTLICHE ZIVILISATION ZURÜCK
Interview mit dem slowenischen Präsidenten Milan Kucan, Berliner Zeitung

Ljubljana, 10 April 2000

Interview mit dem slowenischen Präsidenten Milan Kucan über den EU-Beitritt des Landes LJUBLJANA, im März. Slowenien präsentiert selbstbewusst seine erstklassige Bewerbung für die Aufnahme in die Europäische Union. Zugleich strebt Milan Kucan, Präsident des kleinen, aber im Vergleich zu allen anderen EU-Anwärtern starken Landes, die rasche Aufnahme des Nachbarlandes Kroatien an.



BERLINER ZEITUNG
Slowenien gilt in den EU-Aufnahmeverhandlungen als etwas Besonderes, nämlich "leichter Fall". Was verschafft Ihrem Land diese Ehre?

MILAN KUCAN
Schon heute erwirtschaftet Slowenien 60 Prozent seines Brutto-Inlandsproduktes durch Kooperation mit den EU-Staaten. Auch technologisch ist Slowenien bereits stark an die EU gebunden, und Deutschland steht an erster Stelle. Slowenien bietet mit zwei Millionen Einwohnern einen relativ kleinen, aber gut organisierten Markt und die Kaufkraft ist mit etwa 14 000 US-Dollar pro Kopf recht hoch. Wir haben eine hohe soziale Stabilität und eine gute Lebensqualität. Die Arbeitslosenrate liegt bei vergleichsweise günstigen knapp acht Prozent, wir haben ein hohes Potenzial qualifizierter Leute.

Natürlich bringen wir auch eine alte, reiche Kultur mit, geformt am Kontaktpunkt dreier Völker- und Sprachgruppen - slawischer, germanischer und romanischer Herkunft. Aber die Mitgliedschaft ist uns auch endgültige Bestätigung, dass wir aus der östlichen Zivilisation, in die wir nach dem Zweiten Weltkrieg gewaltsam gedrängt wurden, in die westliche Zivilisation zurückgekehrt sind. Dort sind wir verankert.

BERLINER ZEITUNG
Wie weit sollte sich die EU nach Osten und Süden ausdehnen?

MILAN KUCAN
Ich bin fest davon überzeugt, dass die Idee der europäischen Einigung auf Werten beruht, die sich in der westeuropäischen Zivilisation formiert haben. Aber wenn Europa friedlich leben will, ist es gezwungen, sich weit nach Osten auszudehnen, also bis zur russischen Grenze. Russland allerdings ist ein Sonderfall, es ist nicht nur ein europäischer, sondern auch ein asiatischer Staat. Ähnliches gilt für die Türkei. Für die Beziehungen zu diesen beiden wichtigen Ländern muss Europa ein besonderes Modell entwickeln. Das ist umso wichtiger, weil die Zeit des Eurozentrismus vorbei ist. In der Welt entstehen weitere Zentren, mit denen Europa zusammenarbeiten und konkurrieren muss - in Asien, Südamerika, früher oder später auch in Afrika. Es wächst eine multipolare Welt. Für mich steht allerdings nicht die Frage an erster Stelle, wie weit sich Europa ausdehnen soll, sondern seine Grundsätze und die Geschwindigkeit der Ausdehnung. Wir brauchen klare feste Maßstäbe, die für alle gleichermaßen gelten. Europa darf das Wohlverhalten anderer nicht erkaufen. Es kann sich nicht erlauben, Eigeninteressen über die Gleichheit der Bedingungen für ausnahmslos alle Kandidaten zu stellen.

BERLINER ZEITUNG
Wie beurteilt die slowenische Bevölkerung den geplanten EU-Beitritt?

MILAN KUCAN
Die Slowenen sind gut informiert über Vor- und Nachteile der EU, den Stand der Beitrittsverhandlungen und die Schlüsselfragen. Deshalb sind die Meinungen rational und nicht mehr so euphorisch wie vor einigen Jahren. Die Umfragen sagen, etwa zwei Drittel der Bevölkerung begrüßen eine Mitgliedschaft. Ein Fünftel sind dagegen. Die Skepsis wird gespeist von der Angst um die nationale Identität. Es wird der Verlust des Bauerntums gefürchtet, weil es gerade die Bauern waren, die in der Zeit der Germanisierung und Italienisierung das Slowenentum aufrechterhalten haben. Stark ist auch die Furcht, dass Betriebe, der Stolz der slowenischen Industrie, in andere Hände gehen, noch bevor sie die Chance hatten, sich selbst Partner in der Welt zu suchen.

Selbstverständlich wird es ein abschließendes Referendum geben - gegen Ende des Jahres 2002 -, und ich bin überzeugt, dass die Bevölkerung zustimmen wird.

BERLINER ZEITUNG
Wie definiert Slowenien seine Position zwischen EU und Balkan?

MILAN KUCAN
Unsere Lage ist sehr delikat, aber sie kann auch sehr produktiv sein. Slowenien liegt ja an der südöstlichen Grenze des stabilen Europa, grenzt also an eine instabile Region. Deshalb gilt Slowenien selbst oft noch als unsicheres Land, obwohl es in der Realität sicher und stabil ist. Slowenien erhält in allen Risikobewertungen die besten Noten im Vergleich zu den anderen EU-Anwärtern. Doch leider wirken sich die Zweifel auf Auslandsinvestitionen, Touristenzahlen und auf die Suche nach strategischen Partnern aus.

Andererseits ist die Tatsache, dass Slowenien lange Zeit zu Jugoslawien gehörte, auch positiv. Slowenien kennt die Verhältnisse auf dem Balkan, die sozialen Bedingungen, die Mentalität der Menschen, auch derjenigen, die Verantwortung tragen.

BERLINER ZEITUNG
Sollte Kroatien in die EU aufgenommen werden?

MILAN KUCAN
Ja, unbedingt und so schnell wie möglich. Einerseits weil Kroatien ein ähnliches Schicksal hat wie Slowenien. Andererseits weil dann die Schengen-Grenze, also die Grenze, die den stabilen Teil Europas vom instabilen trennt, weiter in den Südosten verschoben wird. Das ist für Slowenien sehr gut, es würde deutlicher zeigen, dass unser Land im Herzen Europas liegt.

BERLINER ZEITUNG
Zuvor müssen aber die Grenzfragen zwischen Slowenien und Kroatien beigelegt werden ...

MILAN KUCAN
Jetzt, da Kroatien eine neue Führung hat, werden wir vertrauensvoller miteinander umgehen können. Angesichts der sensiblen Fragen, die zwischen beiden Ländern zu klären sind, ist das auch notwendig. Aber beide Länder müssen diese Konflikte dringend lösen - im Interesse ihrer eigenen Menschen und um die EU nicht zu belasten. Ich bin überzeugt, dass dies gelingen wird.

BERLINER ZEITUNG
In Slowenien lebt noch eine Anzahl deutschstämmiger Personen. Wird sich deren Status im Zuge der EU-Aufnahme verändern?

MILAN KUCAN
Im Jahr 1991 gaben 1 543 in Slowenien lebende Menschen Deutsch als Muttersprache an. Unter ihnen auch das Überbleibsel einer früher recht starken deutschsprachigen Gruppe, die in Slowenien gelebt hat. Die meisten wurden als Folge der Entscheidungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten getroffen wurden, von den jugoslawischen Behörden ausgesiedelt. Denen, die hier leben, geben unsere Gesetze alle kulturellen Rechte. Zudem haben wir mit Österreich Verhandlungen über ein besonderes Abkommen geführt, das die organisierte Wiederaufnahme des kulturellen Lebens ermöglichen soll. Wir rechnen mit einem Erfolg dieser Verhandlungen. Doch den Minderheitenstatus für die Deutschsprachigen wird es nicht geben.
Das Gespräch führte Maritta Tkalec


 

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